Vom richtigen Umgang mit einer Weißwurst
Spätestens ab September sticht es ins Auge: Kneipen, Supermärkte, ja ganze Dörfer hängen deutschlandweit weißblau gerautete Girlanden auf, stellen Biertische und Bänke auf und verkaufen vermeintlich original bairisches Essen und Trinken.
 
Ich, die geborene Bayerin, sehe dies mit gemischten Gefühlen. Als ich vor 30 Jahren von München nach Hamburg emigrierte, verstaute ich in meinem Gepäck noch mehrere Flaschen Weizenbier, auch „Weiße“ genannt – ein kostbares Gut. Es gab dieses köstliche Nass im Norden unserer Republik genauso wenig wie Biergärten oder weißblaue Servietten. Die brezelförmigen Backwaren fühlten sich weich an und kosteten doppelt soviel wie in Bayern. Kein Wunder, man konnte diese exotischen Delikatessen schließlich nur in exklusiven Bäckereien erwerben. Nach Weißwürsten wagte ich gar nicht erst zu fragen und entschloss mich tapfer, die landestypischen Spezialitäten zu verzehren. Eines Tages raunte mir ein mitfühlender Hamburger ins Ohr, er könne mir einen ortsansässigen Schlachter verraten, der die besten Weißwürste herstelle. Da komme selbst die original bairische nicht mit. Eine Weißwurst made in Hamburg – es schüttelte mich schon beim Gedanken daran. So groß war der Leidensdruck nun doch nicht. Ich lehnte empört ab, orderte fürderhin in der selbst gewählten Diaspora bei der Familie in der Heimat die bajuwarischen Delikatessen und kredenzte sie stolz meinen Gästen.
 
Schon bald fiel mir auf, dass doch so mancher lieber ein Stück Leberkäs verlangte. Der scheue Hinweis, er schmecke ihnen besser, und der süße Senf munde ihnen nicht – nein, das kann nicht der wahre Grund gewesen sein. Dahinter steckte mehr: blanke Angst vor der Blamage. Die Norddeutschen beherrschen nämlich nicht die Kunst des Weißwurstessens. Sie sind schlicht nicht in der Lage, an das köstliche Innere zu gelangen. Sie pulen schneller eine Krabbe aus ihrem Panzer als eine Weißwurst aus ihrer Haut. Oder meinetwegen aus der Pelle. Die Aktion soll nicht noch zusätzlich durch Sprachprobleme erschwert werden. Meine Nachhilfeangebote wurden nur spärlich angenommen. Ich zeigte mehrere Varianten. Das brutale Auseinanderschneiden, den Längsschnitt mit Herauswälzen des Inhalts, das vorsichtige Einschneiden und Herauslösen, selbst den Verzehr samt Haut / Pelle für die ganz Harten. Ich legte das Besteck zur Seite und nahm beherzt die Wurst in die Hand, um den Inhalt mit den Zähnen aus der Haut zu „zuzeln“. Das Wort erklärt sich von selbst, wenn Sie es einige Male laut lesen. Ich krönte die weiße Köstlichkeit mit dem nicht minder köstlichen original Weißwurstsenf und sah geflissentlich darüber hinweg, wenn die Gäste die arme Weißwurst in scharfen Senf tunkten oder gar in Ketchup ertränkten. Ich fischte nach dem Essen klaglos die Wurstreste unter dem Tisch hervor. Verscheuchte grübelnde Gedanken, ob sie schwungvoll von der Gabel gesprungen oder gar absichtlich - Ich erkannte jegliche Bemühung meiner norddeutschen Freunde an. Hauptsache, die bairische Delikatesse landete überwiegend und artgerecht im Mund.
 
Heute werden an jeder Ecke und in jedem Supermarkt die kulinarischen Spezialitäten aus bairischen Landen angeboten. Ich bin nicht mehr auf die Care-Pakete aus dem Süden angewiesen. Sämtliche Sorten Weißbier in Flaschen und sogar aus dem Fass kann ich erstehen. Auch der einzig echte Weißwurstsenf – der von Haindlmayer - prangt in norddeutschen Regalen. Die „echten“ bairischen Brezeln warten tiefgekühlt zum Aufbacken im Supermarkt. Ja, und die Weißwürste? Sie stecken in Dosen, liegen vakuumverpackt im Kühlregal oder bestenfalls lose zum Verkauf neben norddeutschen Blutwürsten. Oh heiliger Franz Josef, dabei sollten die Würschte früher doch nicht einmal das 12-Uhr-Läuten erleben!!
 
Anlässlich des 150. Geburtstags im letzten Jahr wurden auf die gute Weißwurst Hymnen und Schriften verfasst. Es wird prozessiert, ob und wer sich original Weißwurst nennen darf, was drin sein muss, kann, nicht sollte, aber letztlich doch ist. Renommierte Gazetten wie die „Süddeutsche“ und „Stern“ widmeten der Weißwurst Sonderseiten, es wurde allüberall recherchiert und in der Historie gebuddelt. Gourmetköche gaben gescheite Kommentare und Empfehlungen, aber auch Schmähungen zum Besten. „Kaffee zum Albinopimmel“, Pommes zu frittierten Weißwürsten – unfassbar! Münchener Zeitungen diskutierten die korrekte Temperatur des Wassers, in dem die Wurst erhitzt wird. Und bei Wikipedia kann der wissbegierige Leser einiges über die historischen  Zusammenhänge erfahren. Der bairische Erbfeind Frankreich gar soll schon im 14.Jahrhundert, also vor den Bayern, die Weißwurst erfunden haben. Und man staune: der alljährlich ausgelobte Preis für die beste Weißwurst geht nicht etwa in den Freistaat, sondern – nach Hamburg. Zu Recht, meinen die Hamburger. Schließlich habe man schon zu Beginn des 19.Jahrhundert eine weiße Wurst erfunden. Mithin vor den Bayern.
 
Rezeptur hin, Rechtsstreit her. Mittlerweile gibt das Fremdenverkehrsamt München eine Gebrauchsanleitung heraus, wie man eine Weißwurst essen soll. Vielleicht sollte sie den Weißwürsten beigefügt werden. Zumindest denen, die ins außerbaierische Deutschland (respektive Südschweden wie mein Münchner Onkel zu sagen pflegt) exportiert werden.