Die Chance
Die Gazetten sind voll davon, kein Fernsehsender, keine Rundfunksendung, die das Thema auslässt. Die Menschen auf der Strasse sprechen darüber, jedermann und jedefrau hat dazu eine mehr oder weniger qualifizierte Meinung. Hauptsache, man trägt sie vor. Mit anderen Worten: der Fall des bairischen Fußballgottes ist in aller Munde. Also auch in meinem.
 
Gefängnis. Allein das Wort lässt mich erschauern. Die Vorstellung von dicken, kalten Mauern, Gitterstäben und Metalltüren mit Gucklöchern steckt schon seit Kindheitstagen im Kopf. Bedrohliche Bilder von dunklem Verließ, rasselnden Ketten und riesigen Schlüsselbünden an den Gürteln von finster blickenden Wärtern. Blechnapf, Zelle, Pritsche, nackte Glühbirnen und kahle Wände – es fielen mir mühelos noch weitere Assoziationen ein.
 
Kittchen, Knast, Loch, Kerker, schwedische Gardinen – nur einige Begriffe für dieselbe Sache. Freiheitsentzug. Der heutige Strafvollzug nennt sich modern, die Zellen sind in der Regel hell, das Essen wird im handelsüblichen Geschirr gereicht und besteht nicht nur aus dünner Suppe. Und trotzdem bleibt es  eine Zelle. Abgeschlossen. Und zwar von außen. Nicht mal eben einen schönen Abendspaziergang machen. Sich nachmittags im Café verabreden. Den neuen Film ansehen, über den so viel geschrieben wird. Einkaufsbummel, Theaterbesuch, Geburtstagsfeier, Schwimmbad, Buchhandlung. Mal schnell jemanden anrufen. Leckeren Weißwein süffeln. Urlaub planen – doch, das ginge, aber mit der Realisierung schaut es nicht so günstig aus.
 
Ganz profane Dinge interessieren mich. Ob ER wohl seine Schuhe selbst putzen wird? Gibt es im Gefängnis eine Putzfrau oder einen Putzmann, der die Waschbecken und Toiletten schrubbt? Was ist, wenn er krank wird, Grippe oder Durchfall, oder gar noch schlimmer, irgendwas mit dem Herzen? Obwohl, wenn einer einen Flugzeugabsturz überlebt...
 
Was vermisst man wohl als erstes? Am meisten? Ist es menschliche Wärme? Der gewohnte Luxus? Handy, Internet, Beruf, Familie? Freunde – welche sind noch geblieben...? Eigentlich eine interessante Vorstellung: worauf reduzieren sich die eigenen Bedürfnisse? Was fällt schwer, welcher Verzicht ist einfach? Was weiß ich von mir, was brauche ich dringend, was überrascht mich? Wie schnell gewöhnt man sich an die neue Situation? Kann man der Situation auch Positives abgewinnen, diesem vorgeschriebenen Leben, dem Befolgen von Regeln, die man nicht selbst aufgestellt hat und an denen man nicht rütteln kann? Verantwortung abgeben, nicht ständig auf der Hut sein, auf der Überholspur des Lebens fahren, die Gier befriedigen müssen – zur Besinnung kommen, gezwungenermaßen zwar, aber mangels gewohnter Ablenkung von außen unumgänglich. Wie auch immer. An die laxe Feststellung: „das sitze ich auf einer Backe ab“ glaube ich in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht.